Nahezu jeder macht sich Gedanken über die Zukunft mit und nach Corona. Die ersten Monate der Pandemie geben bereits Hinweise, wohin die Reise für viele Unternehmen, ihre Mitarbeiter und die Immobilienbranche gehen wird.
Heißer Sommer, ziemlich kühles Klima
Mitten im ersten schweren Pandemie-Sommer seit über 100 Jahren ist die Stimmung gut — allerdings nur auf manchen verbotenen Partys. Ansonsten schwankt die Gemütslage eher zwischen mau, sorgenvoll und schlecht. Für die Immobilienbranche und besonders die Entwickler, Eigentümer oder Vermarkter von Büroimmobilien gilt aktuell eher Letzteres: ISI, der ZIA-IW-Immobilienstimmungsindex, brach im zweiten Quartal 2020 förmlich ein und sank binnen Wochen um 60 %. Viele fragen sich: Wer investiert jetzt noch in Büroimmobilien? Schon machen Albtraumszenarien von reihenweise leerstehenden Glastürmen die Runde. Doch so schlecht sieht die Zukunft gar nicht aus, denn es tut sich viel Innovatives, das schon lange angedacht und diskutiert, aber nur selten und zaghaft umgesetzt wurde. Ein Virus macht es jetzt möglich.
„DIE WELT DANACH WIRD EINE ANDERE SEIN.“
BUNDESPRÄSIDENT FRANK-WALTER STEINMEIER
Das neue Corona-Virus erfasst die Arbeitswelt
Ging es noch kurz nach dem Jahreswechsel in den meisten Büros so emsig zu wie in einem Ameisenhaufen, wurden sie mit dem Corona-Lockdown über Nacht zum Stillleben. Viele wünschten es sich schon lange, aber nur jeder Fünfte durfte vor Corona zumindest einmal wöchentlich zu Hause arbeiten. Jetzt waren es etwa doppelt so viele Menschen. Eine Umfrage des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik zeigte, dass rund 80 % von ihnen mit der neuen Arbeitswelt zufrieden waren — und das, obwohl der Lockdown Familienmenschen ein volles Haus im Homeoffice bescherte, während Alleinstehende mit dem Wegfall sozialer Kontakte zu kämpfen hatten. Viele Vorgesetzte waren ebenso angetan: Neun von zehn waren zufrieden mit den Leistungen und der Produktivität ihres Teams.
Schnell entschieden sich einige Unternehmen dafür, das Konzept nach der Pandemie zumindest teilweise fortzuführen — allen voran Prominenz wie Siemens. Dort will der künftige CEO Roland Busch auch den Rahmen dafür anpassen — mit einer neuen Art der Mitarbeiterführung, die „sich an Ergebnissen orientiert, nicht an der Präsenz im Büro.“ So denkt wohl auch Twitter-Mitbegründer und CEO Jack Dorsey und mailte allen Mitarbeitern im Mai das Versprechen vom Homeoffice „forever“. Darüber hinaus gilt es schon fast als gesetzt, dass Homeoffice zur neuen Normalität in der Arbeitswelt wird. Eine solch fundamentale Veränderung wirbelt in ihrem Kielwasser natürlich auch manch anderes durcheinander.
Bits und Bytes brauchen keine Büros
Das Homeoffice hätte in Corona-Zeiten niemals so gut funktioniert, wenn sich Unternehmen und Mitarbeiter nicht doch noch der Digitalisierung besonnen hätten. Die Werkzeuge standen schon lange bereit, allerdings wurden sie in den meisten Unternehmen nur sporadisch genutzt. Ein gutes Beispiel dafür ist Skype — das Kommunikations-Tool schlechthin. Besprechungen oder Meetings waren in der Regel Präsenzveranstaltungen, neue Alternativen wie Microsoft Teams oder Zoom kannten nur Insider. Von Collaboration-Tools wie Basecamp oder Slack hatten viele zuvor bestenfalls gehört, aber noch nie mit ihnen gearbeitet oder vollständige Workflows damit aufgebaut. Obwohl die meisten Unternehmen damit einen sehr holprigen Start hatten, fanden auch sie nach kurzer Zeit in eine produktive Spur. Hardware und Software wurden im Eilverfahren nachgerüstet, die „neue“ Technologie wurde plötzlich zur Notwendigkeit. Steht die Corona-Pandemie vielleicht am Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Digitalisierung und Gewerbe?
Projektarbeit im Team oder Meetings: Vielerorts wird nichts mehr so sein wie zuvor. To-do-Listen entstehen nicht mehr auf Post-its, sondern digital in der hauseigenen Projektmanagement-Software. Asana, Trello, Monday oder Wrike erlauben die Zusammenarbeit im virtuellen Team — schlanke, effiziente Prozesse und neue Workflows sind die Folge. Die Kommunikation läuft über Slack, Zoom, Google Meet, Microsoft Teams oder Skype, egal ob Meeting oder digitale Kaffeepause. Kunden finden im CRM-System ihren Platz, das gleichzeitig eine neue Welt der Analyse und Optimierung eröffnet. Aus unternehmerischer Sicht fällt die Entscheidung für eine dauerhafte Verlagerung vieler Unternehmensprozesse ins Homeoffice leicht: Weniger Mitarbeiter im Büro und weniger Reisen zu persönlichen Meetings sparen Kosten. Doch dadurch stellt sich für Unternehmen die Frage nach einer rentablen Nutzung von frei werdenden Flächen — eine Frage, mit der sich auch Eigentümer, Entwickler, Investoren und Vermarkter beschäftigen müssen.
„EINIGE MENSCHEN MÖGEN KEINE VERÄNDERUNG. ABER MAN MUSS VERÄNDERUNG ANNEHMEN, WENN DIE ALTERNATIVE DAZU EINE KATASTROPHE IST.“
ELON MUSK, UNTERNEHMER
Kreativ Räume nutzen
Noch sind Nachfrage und Preise auf den Büromärkten relativ stabil, denn aktuell wirkt regional oder lokal oftmals ein Büroflächenmangel nach. Das eröffnet Mietern Chancen, kurz- bis mittelfristig nicht mehr genutzte Flächen untervermieten zu können. Genauso wenig müssen Eigentümer fürchten, dass ihre Objekte krisenbedingt gleich zum Ladenhüter werden. Ein proaktiver Plan B, wie sich die Büros kreativ umnutzen oder vermarkten
lassen, schadet aber in keinem Fall.
Mit großzügigen Meeting Spaces im Lounge-Design, vielseitigen Entspannungs-Areas oder einem Sport- und Fitness-Bereich machen Unternehmen aus ihren freien Flächen Potenzmittel für Mitarbeitermotivation und -bindung, Arbeitgeberattraktivität und Produktivität. Alternativ wird der Platz frei für unternehmenseigene Start-ups, die neue
Geschäftsideen erproben und entwickeln sollen. Für größere zusammenhängende Bereiche wird außerdem die möblierte oder unmöblierte Untervermietung zur Option. Besonders im Bereich hochwertig möblierter Objekte steigt die Nachfrage seit langem und bleibt selbst in Corona-Zeiten konstant. Durch höhere Mieten zahlt sich die Anfangsinvestition in die Einrichtung bald wieder aus. Dabei kann der Fokus auf einer großen, modernen Bürolandschaft für einen Mieter liegen oder er richtet sich auf viele Mieter beziehungsweise Nutzer mit dem Aufbau eines Coworking Space.
Coworking Space ist beliebt: Einzelne Arbeitnehmer, Freiberufler, Selbstständige und ganze Start-ups mieten immer häufiger die Büros auf Zeit an. Sie könnten demnächst verstärkt die Plätze oder Flächen für sich einnehmen, die andere aufgeben, weil sie diese nicht mehr benötigen. Solche Jungunternehmer arbeiten hart. Aber sie sind längst nicht mehr bereit, vom Morgengrauen bis nach Mitternacht jede Minute am Schreibtisch zu verbringen. Vielmehr streben sie nach einer ausgewogenen Work-Life-Balance oder sogar nach Work-Life-Blending. In dieser Konstellation erhalten das private Zuhause, seine Möglichkeiten und die Gestaltung neues Gewicht. Ähnlich verändern sich die Ansprüche bei vielen Menschen, wenn sie nun verstärkt hier arbeiten.
Die neuen Wohnwelten in und nach der Pandemie
Das eigene Zuhause hat durch die Corona-Krise, den Lockdown und ein wahrscheinlich noch länger vom Virus geprägtes Leben eine ganz neue, viel größere Bedeutung bekommen. Um sich dabei wohlzufühlen und produktiv zu sein, braucht es Raum und Ambiente. Aus Sicht der Immobilienbranche verlangt das nach größeren oder flexibleren Angeboten: Die Wahl zwischen Arbeits- und Kinderzimmer ist nicht mehr optimal, stattdessen sollten — eventuell mit etwas kleineren Räu-
men — beide vorhanden sein. Auch ohne separates Zimmer verlangen zukunftsträchtige Grundrisse nach einem kleinen Workspace, der die Trennung von Arbeit und Leben erleichtert. Die anhaltende Knappheit privaten Wohnraums dient nicht als Ausrede, um diese zukünftige Notwendigkeit nicht umzusetzen. Ganz im Gegenteil entstehen hier Möglichkeiten, sich aus der Angebotsmasse herauszuheben und zu höheren Preisen attraktive Mieter zu gewinnen.
Möbliertes Wohnen bleibt dabei wie zuletzt im Trend. Schon länger waren besonders jüngere Arbeitnehmer sehr mobil, begriffen ihre Arbeitsplätze nur als Durchgangsstation für ein paar Monate oder Jahre, wollten sich aber trotzdem ohne eigenen Hausstand in ihrer Wohnung wie in einem echten Zuhause aus dem Design-Magazin fühlen. Daran wird die Pandemie nichts ändern. Dank mehr Homeoffice wird sie aber den Fokus der Wohnungssuche verschieben.
Der Rand wird interessant
Viele Unternehmen verlegen ihre Büros direkt in die Zentren der Städte. Deswegen beziehen ihre Mitarbeiter häufig ein Quartier in der Nähe, denn wer möchte gerne jeden Tag seine Freizeit mit längerem Pendeln beschneiden? Viele, die jetzt aber neben dem Homeoffice nur noch ein- oder zweimal wöchentlich ins Büro müssen, denken nun um. Mehr Ruhe, mehr Natur und günstigere Mieten machen die Randlagen oder Objekte vor den Toren der Stadt angesichts der neuen Arbeitswelt wesentlich attraktiver.
Hier liegt viel Potenzial für Bauherren und Investoren im Wohnungsmarkt, die diese Gebiete bisher gemieden haben. Am Rand steigt der Bedarf nach hochwertigem Wohnraum durch veränderte Arbeitsbedingungen jetzt wie zuvor in den Städten selbst — mit einer aus Investoren- oder Vermietersicht attraktiven Klientel.
„WIR SIND ABER WEIT DAVON ENTFERNT, DASS BÜROFLÄCHEN REDUNDANT WERDEN.“
DR. ANDREAS MATTNER, PRÄSIDENT DES ZENTRALEN IMMOBILIEN AUSSCHUSSES
Der Fluss nimmt eine neue Richtung
Nach rund einem halben Jahr Pandemie lässt sich weder ihr weiterer Verlauf noch ihr Ende vorhersagen oder auch nur grob einschätzen. Waren in vergangenen Krisen die Rufe nach Veränderung mindestens genauso groß wie aktuell, blieb später doch vieles beim Alten. Das Corona-Virus hat hingegen einiges sehr schnell geändert. Als der Fluss von Leben und Arbeiten mit dem Pandemiebeginn kurz gestaut werden musste, hat er sich nicht in einen ruhigen Stausee verwandelt, sondern unmittelbar dynamisch einen neuen Weg eingeschlagen. Dieser Weg mit Homeoffice und all seinen Konsequenzen bleibt, denn er hat eine große Mehrheit seiner früheren Versprechungen sofort eingelöst.