BIM City

Die Stadt von morgen wird schon heute gebaut.

Die Orte, an denen Menschen leben und arbeiten, stehen am Anfang eines radikalen Wandels. Die Art und Weise, wie sie bisher entworfen und gebaut wurden, verändert sich komplett. Durch digitale Techniken stehen Gebäude und ganze Städte nicht mehr nur für sich – sie entstehen jetzt individuell um ihre Nutzer oder Bewohner herum. Ein Ansatz, der zugleich Lösungen für viele andere Probleme in der Bau- und Immobilienwirtschaft verspricht.

„Wir bauen wie im alten Rom vor 2000 Jahren.“ — Mit dieser Aussage ließ Immobilienentwickler Christoph Gröner, Vorstandsvorsitzender der CG Gruppe AG, im August 2018 die Branche kräftig aufhorchen. „Wie bitte?“, wird sich mancher gefragt haben. Schließlich steht doch in Hamburg das Apartimentum, das Smart Home schlechthin. Außerdem öffnet mit dem Grand Central Berlin in Deutschland bald eines der weltweit modernsten Bürogebäude seine 22.000 m2 große Hightech-Geschossfläche. Nur ein paar Kilometer entfernt von diesem Vorzeigeprojekt tickt für einen anderen Bau allerdings auch eine Uhr, die längst zum landesweiten Running Gag geworden ist. Im Sommer 2019 zeigte sie mehr als 2600 Tage an. Gemeint sind die Tage, seit denen die Eröffnung des Hauptstadtflughafens BER schon überfällig ist. Keine Frage: BER und Grand Central Berlin sind zwei Extreme.

Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Aber auch dort sieht es nicht sonderlich gut aus. Büro-, Gewerbe- oder Wohngebäude — die Baukostenindizes kletterten zuletzt schon quartalsweise um gut einen Punkt nach oben. Alle sind vollauf beschäftigt und so wachsen die Wartezeiten bei Baufirmen und Handwerkern parallel zu den Kosten. Pünktliche Fertigstellung? Praktisch unmöglich. Für Bauherren und Investoren wird es immer schwieriger, der stark angezogenen Nachfrage hinterherzueilen — im Bereich Wohnimmobilien ohnehin. Selbst die einst großen Leerstände bei Büroflächen sind mittlerweile fast aufgebraucht, während immer neue Objekte entstanden sind. Der Blick auf öffentliche Bauprojekte rundet das negative Bild ab, auch wenn es dort nicht immer ganz so schlimm aussieht wie auf dem BER.

Zusammengefasst: Der Bau- und Immobilienbereich in Deutschland steckt in einer ziemlich tiefen Sackgasse und hat mit seiner enormen Größe Probleme beim Wenden. Die Ursachen sind vielfältig. Christoph Gröner hat sie teilweise auf den Punkt gebracht: Es wird losgebaut, ohne dass der Bau wirklich in allen Aspekten durchdacht ist, die ersten Probleme tauchen auf und am Ende geraten Kosten-, Nutzungs- und Zeitplanung vollkommen aus der Spur. Aber eine umfängliche Lösung steht längst bereit.

Eine Branche erfindet sich neu

Die Digitalisierung mischt sämtliche Wirtschaftsbereiche auf. Nach anfänglicher Skepsis und langem Zögern überzeugt die disruptive Technologie mehr und mehr mit konkreten Beispielen für bessere Prozesseffizienz, geringere Kosten oder größere Nachhaltigkeit. Einige Visionäre im Baubereich haben das Potenzial früh erkannt. Sie arbeiten schon länger mit BIM, dem Building Information Modeling.

BIM bedeutet Bauen 4.0 und zugleich ein nach allen Seiten offenes Workflow-Modell, das den Bau- und Planungsbereich in wenigen Jahren mehr revolutionieren wird, als es in den letzten hundert Jahren passiert ist. So beschreibt es Dr. Stefan Nöken aus der Konzernleitung der Hilti Gruppe, die gerade in Rotterdam ein BIM Experience Center eröffnete, um die Vielfalt der BIM-Möglichkeiten zu präsentieren. Und weiter prognostiziert er: „Building Information Modeling wird einen wichtigen Platz in der Industrie einnehmen und auch in der zukünftigen Zusammenarbeit aller am Bau Beteiligten wird eine Transformation stattfinden.“

Mit BIM wird zweimal gebaut: Zuerst entsteht ein Objekt rein virtuell und wird solange digital geformt, bis es alle Erwartungen für eine optimale Nutzung erfüllt. Gebäude und Bauprozess werden vorab am Rechner perfekt durchdesignt. Eigentümer oder Entwickler erhalten dadurch die vollständige Kontrolle über ihr Projekt und sehen es vorab in einer virtuellen Realität. Außerdem können beteiligte Gewerke die verschiedenen Bauphasen digital nachvollziehen: Sie sehen beispielsweise mithilfe einer VR-Brille, wo Leitungen verlegt wurden oder werden müssen. Der neue Weg bringt eine immense Kosten- und Zeitersparnis beim anschließenden realen Bau. Die Möglichkeiten dieser Vorab-Digitalisierung sind schier endlos und erfassen jedes Detail. Wie verändern eine Tür hier oder eine Glasfläche dort die Sicherheit oder die Lichtverhältnisse? Binnen Sekunden geben die virtuellen Gebäudemodelle und die Algorithmen dahinter die passenden Antworten.

Gebäude und Räume wie aus dem Atelier


Selbst die Wünsche und Bedürfnisse der zukünftigen Nutzer fließen frühzeitig in diesen Prozess ein. Die Technik kann das Gebäude und die Räumlichkeiten buchstäblich maßschneidern. Besonders praktisch ist das für Büroimmobilien, die den komplexen Anforderungen von verschiedenen Mietern unterliegen.

Autodesk, ein US-Software-Unternehmen für computer-aided design (CAD) und international führender Anbieter für BIM-Lösungen, zeigte dazu 2017 eine beeindruckende Fallstudie: Für die Neugestaltung von Büroetagen erfasste ein Architektenteam zunächst die Räumlichkeiten digital. Lichtverhältnisse, Ausblick, Arbeitsbereiche, Geräuschkulisse und viele andere Parameter nahmen sie Quadratmeter für Quadratmeter in ihr Modell auf. Anschließend befragte Autodesk die dort arbeitenden Menschen nach ihren Wünschen, Bedürfnissen und Schwächen der Räumlichkeit durch die Aufteilung. Mit den Antworten wanderten weitere Daten in das Modell. Im nächsten Schritt ließen die Architekten die BIM-Magie für sich arbeiten.

Umfangreiche Rechenoperationen formten aus dem riesigen Datenpool durch generatives Design einen neuen Gestaltungsentwurf für die Etagen, der maximale Arbeitsplatzergonomie mit optimalem Raumdesign vereinte. Kurzum: ein perfektes Büro.

Mit Spacelab sitzt auch in Europa ein Vorreiter in diesem Bereich. Spacelab Director Rosie Haslem bringt die Philosophie der tech-basierten Bürogestaltung auf den Punkt: „Architektur sollte von innen heraus entworfen werden. Großartiges Design beginnt und endet bei den Menschen.“ Nach diesem Leitgedanken entwerfen und überarbeiten die Londoner schon seit fast zwei Jahrzehnten Büros auf der Basis von Datenanalysen, um eine Arbeitsumgebung für maximale Produktivität und Nutzungsqualität zu gestalten.

Das generative Office Design ermöglicht wesentlich umfangreichere Optionen, was die Büroplanung angeht. Nebenbei beachtet es so viele Facetten, dass es ein ganzes Team an Architekten bräuchte, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu gelangen. Zum ersten Mal ist es möglich, alle Bedürfnisse des Mitarbeiters auf einmal in Betracht zu ziehen. Die Arbeitsumgebung passt sich vollständig dem Menschen an, nicht mehr umgekehrt. Damit bietet BIM die ideale Grundlage für das Bürodesign der Zukunft.

Die Grundgedanken des Building Information Modelling sind keinesfalls so neu, wie sie durch den jüngst entstandenen Fokus auf das Thema erscheinen. Neu sind aber die Möglichkeiten, welche die digitale Technik dafür bietet — von der automatisierten Datenerfassung durch Sensorik bis zur Visualisierung der fertigen Entwürfe zum Beispiel mit Augmented Reality (AR), wie sie von Spacelab genutzt wird.

Wo BIM schon funktioniert


Auf der anderen Seite des Atlantiks arbeitete Autodesk mit BIM in ganz anderen Maßstäben — wie beim 632 Meter hohen Shanghai Tower, dem aktuell dritthöchsten Gebäude der Welt. Bei den Autodesk BIM Tools liefen während der Entwicklung und des Baus alle Informationen zusammen. Anschließend wurden sie in ein transparentes Netzwerk für sämtliche Projektpartner gespeist, das die Zusammenarbeit optimal koordinierte und eine pünktliche und kosteneffiziente Fertigstellung sicherte. Heute bietet der Shanghai Tower vom 8. bis zum 81. Stockwerk insgesamt 200.000 m2 Bürofläche.

Der Technologiekonzern Siemens vertraute ebenfalls auf BIM, als er 2013 sein neues Technologie-Zentrum im schweizerischen Zug plante. Das Unternehmen blieb im Anschluss an den Bau nicht nur Nutzer, sondern wurde aus Überzeugung selbst zum Anbieter smarter IT-Infrastrukturen für BIM. Auch die Deutsche Bahn plant die Neu- und Umbauten in ihrem Schienennetz nur noch mit BIM. Die Bahnhofshalle für Stuttgart21, der Gerüstbau zur Restaurierung des Ulmer Münsters — überall kommt BIM heute zum Einsatz. Mit dem Bauen wie vor 2000 Jahren ist nun Schluss.

BIM auch im kleinen Maßstab

Die Idee einer digitalen Modellierung für jedes Bauprojekt setzt sich immer weiter durch und kommt damit zunehmend bei Planern, Architekten, Baufachleuten und Firmen an, die überwiegend kleinere Projekte für private und institutionelle Investoren realisieren. Denn das BIM-Konzept ist an beiden Enden skalierbar. Es modelliert einen hunderte Meter großen Büroturm genauso wie Büros von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Dabei verbindet es dutzende Beteiligte rund um den Globus ebenso effektiv wie eine Handvoll lokaler Baupartner.

So wächst die Zahl der Gebäude aus diesem digitalen Workflow laufend an. Auch die öffentliche Hand, die in der Vergangenheit regelmäßig Schwierigkeiten hatte, ihre Bau- und Infrastrukturprojekte innerhalb des Kosten- und Zeitrahmens zu realisieren, setzt auf die Zukunft mit BIM. Bei Ausschreibung und Vergabe vieler Projekte wird BIM bald verbindlich. BIMCity entsteht. Es wird eine Stadt, in der Gebäude nicht mehr nur für sich und den Moment entwickelt und gebaut werden. Sie sind von Grund auf für ihre

Eigentümer, Nutzer und ihre Umwelt optimiert. Diese Gebäude und ihre Verbindungen wachsen schneller und werden preiswerter. Mit BIM bleiben die einzelnen Teile urbaner Lebensräume keine autarken Inseln mehr. Durch den BIM-Prozess besitzen sie viele Schnittstellen, um sich mit der Nachbarschaft und der lokalen Struktur zu verbinden. Der Organismus Stadt entsteht vollständig neu — effizienter, sicherer, nachhaltiger und lebenswerter. Es wachsen Smart Citys, für deren Errichtung BIM ein unverzichtbarer Baustein ist.

BIM auf einen Blick:

Die Bau- und Immobilienbranche digitalisieren sich. Im Zentrum dieser Digitalisierung steht das Building Information Modeling, kurz BIM. Der neue Bau- und Designprozess eröffnet unzählige Gestaltungsmöglichkeiten – gleichzeitig senkt er Kosten und Bauzeiten. BIM erreicht jeden Winkel und wird auch die Büros der Zukunft umgestalten – hin zu angenehmen, produktiven Arbeitsplätzen für alle. Rund um diese Büros verändert das Modeling auch die Städte und erschafft die Smart Cities der Zukunft.